taz: Herr Elson, viele Eltern müssen sich derzeit um Lohnarbeit und Familie gleichzeitig kümmern. Die Bildschirmzeit der Kinder hat sich Studien zufolge entsprechend erhöht, einige
Expert:innen warnen vor langfristigen Folgen. Schade ich meinem dreijährigen Kind, wenn ich es täglich altersgerecht fernsehen lasse?
Malte Elson: Nein, es geht kein unmittelbarer Schaden vom Bildschirm aus. Natürlich ist es so, dass man zu viel fernsehen kann. Schaden klingt immer, als gäbe es eine unmittelbare Konsequenz,
aber es geht viel mehr darum, dass Dinge, die wichtiger wären, vernachlässigt werden könnten.
In einer Broschüre des Bundesfamilienministeriums stehen dennoch sehr strikte Zahlen: Kinder zwischen 3 und 5 Jahren sollen nicht mehr als 30 Minuten pro Tag fernsehen, Kinder zwischen 6 und 9
Jahren nicht mehr als 45 und Kinder ab 10 Jahren nicht mehr als 60 Minuten. Was passiert mit dem kindlichen Hirn, wenn sie länger fernsehen?
Nichts. Studien zu Auswirkungen von Bildschirmen aufs Gehirn gibt es wenige, und die, die es gibt, weisen nicht darauf hin, dass da strukturelle Veränderungen entstehen. Es wäre auch verrückt
anzunehmen, dass das Gehirn erst mal ein gesundes Organ ist und dann macht man irgendwas wie Fernsehen und dann ist es ungesund. Das Gehirn ist plastisch, es verändert sich ständig. Man könnte
eher darüber nachdenken: hat das Auswirkungen darauf, wie gut das Kind Freundschaften pflegt, ob es sich genug bewegt.
Das hat wenig mit dem Bildschirm zu tun. Wer drei Stunden am Tag Bücher liest, der wird einen ähnlichen Effekt beobachten können. Diese Zeitangaben sollen Eltern eine grobe Idee geben, was
angemessen ist, um die Aktivitäten möglichst divers zu halten. Aber es ist nicht so, als hätte das jemand systematisch untersucht. Es geht da mehr um kulturelle Wertvorstellungen.
Woher kommt die Ablehnung des Bildschirms und ist sie wissenschaftlich irgendwie nachvollziehbar?
Gesellschaftlich gesehen lehnen wir den Bildschirm ja gar nicht so sehr ab. Erwachsene haben mitunter ganz ordentliche Bildschirmzeiten. Es gilt als legitim, ein Smartphone zu haben, am Computer
zu arbeiten, die „Tagesschau“ zu gucken und den Krimi danach. Von Kindern und Jugendlichen werden Bildschirme aber weitgehend zur Unterhaltung genutzt – und die hat gesellschaftlich einen relativ
geringen Stellenwert, sofern man produktivere Alternativen hat. Es geht auch um die Optik: Kinder starren mit halboffenem Mund auf den Bildschirm, sie bekommen nichts mehr mit, man muss sie
mehrmals ansprechen, bevor sie reagieren. Da können Leute schnell auf die Idee kommen, dass das nicht gut sein kann.
Richtig, das war früher mit Büchern so, mit dem Radio auch, mit Comics. So ist das bei neuen Medien, ältere Generationen sind immer skeptischer gegenüber den Medien der Nachkommengeneration, weil
sie damit selber weniger Erfahrung haben. Und natürlich weil sie als Eltern den Instinkt haben, bei ihren Kindern auf Gefahren zu achten, und dadurch sind sie da vielleicht einfach etwas
unentspannt.
Wer im Internet dazu nach Informationen sucht, findet etwa einen Artikel vom Deutschen Grünen Kreuz: „Zahlreiche Studien bestätigen: Fernsehen macht Kinder dumm.“ Darin steht auch: „Wer
als Kind viel fernsieht, erreicht als junger Erwachsener einen schlechteren Schulabschluss.“ Was halten Sie davon?
Ein typischer Fall von „Gut gemeint ist nicht gut gemacht“. Natürlich gibt es Studien, in denen wir Korrelationen finden zwischen Fernsehkonsum und Leistung in der Schule. Wir sehen vielleicht:
Kinder, die fünf Stunden am Tag fernsehen, schneiden schlechter in der Schule ab. Klar, weil keine Zeit für anderes bleibt. Aber diese Vorstellung, dass jede extra Minute vor dem Bildschirm
irgendwo einen Punkt Abzug bedeutet, dafür gibt es keine Evidenz. Schon gar nicht in dieser Kausalität.
Die Bildschirmzeiten sind asymmetrisch verteilt in der Gesellschaft. In finanziell schwächeren Schichten nutzen Kinder oft unüberwacht Bildschirme. Die sind aber auch aus anderen strukturellen
Gründen benachteiligt – etwa bei der Unterstützung in der Schule. Man kann also nicht einfach sagen, dass diese Empfehlungen zu maximalen Bildschirmzeiten wissenschaftlich fundiert seien.
Aber weniger ist dennoch immer besser als mehr?
Kommt darauf an. In den Studien der vergangenen 15 Jahre sieht man eine interessante U-Verteilung. Sowohl bei Kindern, die ganz, ganz wenig fernsehen, wahrscheinlich weil sie nur wenig dürfen,
als auch bei Kindern, die sehr viel fernsehen, gibt es Korrelationen zu anderen Faktoren des Lebens, die wir für wichtig halten: Schulleistungen, Schlaf, Pflege von Freundschaften. Bei dem großen
Teil in der Mitte dagegen kann man keine großen Unterschiede feststellen. In den extremen Spitzen, also bei gar nicht und sehr viel fernsehen, kann man davon ausgehen, dass auch noch andere Dinge
im Umfeld im Argen liegen. Das liegt auf der Hand, aber das ist wissenschaftlich gesehen sehr schwierig auseinanderzuhalten und zu messen.
Das heißt: Fernsehen an sich kann eine Bereicherung sein für Kinder?
Natürlich, richtig eingesetzt kann jedes Medium eine Bereicherung sein. Es werden ja auch schöne Geschichten erzählt im Fernsehen – und genauso, wie es gute Bücher gibt, aber auch totale
Schrottbücher, ist es auch mit dem Fernsehen. Man muss sich von dieser Idee von diesem uniformen Bildschirmzeiteffekt verabschieden. Es kommt sehr darauf an, was man ansieht und was man daraus
macht: Spricht man als Kind mit seinen Eltern oder Gleichaltrigen darüber, was man da gesehen hat? Das hat völlig andere Effekte, als alleine unüberwacht fernzusehen.
Nun können sich viele Eltern mit Fernseher und Smartphone anfreunden oder sogar identifizieren, aber die Spielkonsole ist dann der Streitpunkt. Ist die Skepsis hier
berechtigt?
Nein. Ich wäre dem Fernseher gegenüber noch kritischer als der Spielkonsole. Die Konsole ist immerhin noch ein Spielzeug, man erkennt Parallelen zum physischen Spielzeug. Insgesamt geht von der
Konsole keine magische Bedrohung aus, wenn altersgerechte Spiele gespielt werden. Und je mehr die Eltern daran teilnehmen, umso besser. Solange das Buffet an Spielzeug und Beschäftigung im Leben
eines Kindes unterschiedlich genug ist, muss man keine Bedenken haben. Ein Problem besteht immer erst dann, wenn es nur noch das eine ist.
Gibt es denn den einen richtigen Weg, als Eltern die Mediennutzung mit seinen Kindern zu vereinbaren?
Es kann je nach familiärer Situation schwierig sein für Eltern, die Mediennutzungszeiten ihrer Kinder sinnvoll zu überwachen oder zu gestalten. Wenn man alleinerziehend ist und Vollzeit arbeiten
muss, dann sind die Kinder eben irgendwann alleine zu Hause und diese Situation ist unlösbar. Kinder sind auch sehr unterschiedlich. Die Vorstellung, dass wir als vernünftige Erwachsene alle
vernünftige Kinder haben, mit denen wir vernünftig über Mediennutzung sprechen, das stimmt vielleicht für einige, aber eben nicht für alle. Gut regulierte Mediennutzung hat auch nicht für alle
Familien die höchste Priorität, da gibt es vielleicht andere Dinge, um die man sich zuerst kümmern muss. Deshalb ist es einerseits schwierig, generelle Empfehlungen umzusetzen, andererseits
sollte man eben auch nicht überschätzen, welche Konsequenzen von Mediennutzung ausgehen in einem größeren sozioökonomischen Kontext.
Eltern können sich derzeit also getrost um alles andere zuerst Sorgen machen?
Ja, ich denke nicht, dass man sich ausgerechnet jetzt vorrangig über Bildschirmzeit und Mediennutzung Gedanken machen muss. Ich finde es auch eigenartig, wie das befeuert wird – sowohl von
Politik als auch von der Wissenschaft. Klar, die Kinder sind mehr zu Hause, Freizeitangebote fallen weg. Aber ich sehe nicht, warum wir uns jetzt darum sorgen müssten, anstatt darum, ob
Freundschaften noch gepflegt werden können oder was für nachhaltige Effekte die verpasste Schulzeit hat.
MALTE ELSON: Jahrgang 1986, ist Medienpsychologe an der Ruhr-Universität Bochum, wo er als Junior-Professor das Labor für Mensch-Technik-Interaktion leitet. Er ist bei der Deutschen
Gesellschaft für Psychologie Sprecher der Fachgruppe Medienpsychologie. Seine Diplomarbeit handelte von der Wirkung von Gewalt in Ego-Shooter-Spielen, und er promovierte über die Defizite der
medienpsychologischen Aggressionsforschung.
Quelle: taz, 3.2.2021